Von Stephen Brian Sulkes, MD, Golisano Children’s Hospital at Strong, University of Rochester School of Medicine and Dentistry
Überprüft/überarbeitet Feb 2022
Eine unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) leidende Person hat Schwierigkeiten normale soziale Beziehungen aufzubauen, benutzt Sprache nicht normal oder gar nicht und legt ein zwanghaftes und ritualisiertes Verhalten an den Tag.
Betroffene Personen haben Schwierigkeiten mit der Kommunikation und dem Umgang mit anderen.
• Zudem zeigen Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen eingeschränkte Verhaltensmuster, Interessen und/oder Aktivitäten und folgen oft ganz strengen Routinen.
• Die Diagnose basiert auf Beobachtungen, Berichten von Eltern und anderen Betreuungspersonen und standardisierten autistischen Screening-Tests.
• Die meisten Personen sprechen am besten auf stark strukturierte Verhaltensinterventionen an.
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind neurologische Entwicklungsstörungen.
Autismus-Spektrum-Störungen gelten als Spektrum (Bandbreite) von Erkrankungen, da die Manifestationen in der Art und Schwere stark variieren. Früher wurden ASS unterteilt in klassischen Autismus, Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom, desintegrative Störung des Kindesalters und nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung. Es gibt jedoch so viele Überschneidungen, dass Unterscheidungen nur mit Schwierigkeiten vorgenommen werden können, sodass Ärzte diese Terminologie heute nicht mehr verwenden, sondern allgemein von ASS sprechen (mit Ausnahme des Rett-Syndroms, einer spezifischen genetischen Erkrankung). ASS unterscheiden sich von einer intellektuellen Behinderung, obschon viele Personen mit ASS beides haben. Das Klassifikationssystem hebt hervor, dass innerhalb des breiten Spektrums verschiedene Merkmale bei einer bestimmten Person mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können.
Diese Störungen treten in den USA bei ungefähr 1 von 54 Personen auf und sind bei Jungen 4-mal häufiger als bei Mädchen. Die geschätzte Zahl der mit Autismus-Spektrum-Störungen diagnostizierten Personen steigt weiterhin an, da Ärzte und Betreuungspersonen immer mehr über die Symptome der Störung lernen.
Die spezifischen Ursachen der Autismus-Spektrum-Störungen sind noch nicht vollkommen erklärt, werden jedoch häufig mit genetischen Faktoren in Zusammenhang gebracht. Eltern, die bereits ein Kind mit ASS haben, tragen ein Risiko von ca. 3 bis 10 Prozent, ein weiteres Kind mit ASS zu bekommen. Mehrere Genanomalien, wie z. B. Fragiles-X-Syndrom, tuberöse Sklerose und
Down-Syndrom, werden mit ASS in Verbindung gebracht.
Vorgeburtliche Infektionen, z. B. Virusinfektionen wie Röteln oder eine Infektion mit dem Zytomegalievirus, können ebenfalls eine Rolle spielen. Eine Frühgeburt kann auch ein Risikofaktor sein: Je höher der Grad der Frühgeburt ist, desto größer ist das Risiko für eine ASS. Manche Kinder mit ASS zeigen im Vergleich zu normalen Kindern Unterschiede im Aufbau und der Funktion ihres Gehirns.
Sicher ist jedoch, dass ASS nicht durch mangelnde Zuwendung, ungünstige Bedingungen in der Kindheit verursacht werden.
Symptome der Autismus-Spektrum-Störungen treten zwar in den ersten 2 Lebensjahren auf, in leichter Form können sie aber bis zum Schulalter unentdeckt bleiben.
Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung entwickeln Symptome in den folgenden Bereichen:
• Soziale Kommunikation und Interaktion
• Eingeschränkte, ritualisierte Verhaltensmuster
Die Symptome von Autismus-Spektrum-Störungen können leicht bis schwer sein, die meisten Betroffenen benötigen aber in beiden Bereichen einen gewissen Grad an Unterstützung. Die Fähigkeit, in der Schule oder der Gesellschaft zurechtzukommen, sowie der Bedarf an Unterstützung variiert bei ASS-Patienten stark. Darüber hinaus entwickeln 20 bis 40 Prozent der Kinder mit einer ASS, speziell jene mit einem IQ unter 50, vor dem Jugendalter Krampfanfälle. Bei rund 25 Prozent der betroffenen Kinder findet ungefähr zum Zeitpunkt der Diagnose ein Verlust der vorher erlernten Fertigkeiten statt, was ein erster Hinweis auf die Störung sein kann.
Soziale Kommunikation und Interaktion
Häufig zeigen Säuglinge mit einer ASS Auffälligkeiten beim Kuscheln und Augenkontakt. Obschon einige betroffene Säuglinge aufgebracht sind, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden, suchen sie nicht wie andere Kinder Schutz und Geborgenheit bei ihren Eltern. Ältere Kinder spielen am liebsten für sich allein und bauen keine persönlichen Beziehungen auf, insbesondere nicht außerhalb der Familie. Im Umgang mit anderen Kindern setzen Kinder mit ASS weder Blickkontakt noch Mimik ein, um Kontakt aufzunehmen; außerdem haben sie Schwierigkeiten, die Stimmungen und Gesichtsausdrücke anderer richtig zu deuten. Sie wissen möglicherweise nicht recht, wie und mit welchen Worten man in ein Gespräch einsteigt, und haben Schwierigkeiten unangemessene und verletzende Worte als solche zu erkennen. Dadurch werden sie von anderen möglicherweise als komisch oder exzentrisch angesehen, was zu einer sozialen Isolation führt.
Sprache
Die am stärksten betroffen Kinder lernen nie, zu sprechen. Die anderen lernen das Sprechen sehr viel später als gesunde Gleichaltrige und setzen die Sprache dann auf ungewöhnliche Art und Weise ein. Oft wiederholen sie Fragen oder Äußerungen, die an sie gerichtet waren (Echolalie), verwenden auswendig gelernte Sätze anstelle von spontaner Sprache oder vertauschen die Fürwörter. So sagen sie vor allem du statt ich oder mich, wenn sie sich selbst meinen. Konversation ist nicht interaktiv und wird, wenn vorhanden, eher für Feststellungen oder Anfragen genutzt statt zum Teilen von Ideen oder Gefühlen. Von Autismus-Spektrum-Störungen betroffene Personen sprechen bisweilen mit einem auffälligen Rhythmus oder in einer ungewöhnlichen Tonhöhe.
Verhalten, Interessen und Aktivitäten
Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung sperren sich häufig gegen Veränderungen, wie neue Speisen, Spielzeuge, Umstellen von Möbeln und neue Kleidungsstücke. Sie können extrem anhänglich gegenüber bestimmten leblosen Objekten werden. Sie wiederholen Dinge häufig. Jüngere und/oder stärker betroffene Kinder wiederholen oft bestimmte Handlungen, wie Schaukeln, Händeflattern oder Drehen von Gegenständen. Manche Kinder fügen sich z. B. durch wiederholtes Kopfschlagen oder Handbeißen selbst Verletzungen zu. Weniger stark betroffene Personen sehen sich mehrere Male hintereinander dasselbe Video an oder bestehen darauf, immer dieselbe Mahlzeit zu essen. Von ASS Betroffene haben oft sehr spezielle, häufig ungewöhnliche Interessen. Ein Kind kann sich beispielsweise ausschließlich mit dem Staubsauger beschäftigen.
Betroffene reagieren häufig zu sehr oder zu wenig auf Eindrücke. Sie können sich durch gewisse Geschmäcker, Gerüche oder Oberflächenstrukturen extrem abgestoßen fühlen oder ungewöhnlich auf schmerzhafte, heiße oder kalte Empfindungen reagieren, was für Außenstehende quälend sein kann. Bestimmte Geräusche werden vollkommen ignoriert, während andere als extrem nervig empfunden werden.
Intelligenz
Viele Personen mit einer ASS haben bis zu einem gewissen Grad eine intellektuelle Behinderung (IQ unter 70). Sie zeigen auf verschiedenen Gebieten unterschiedliche Leistungen. Sie schneiden bei Tests, bei denen die motorischen Fähigkeiten und die räumliche Wahrnehmung getestet werden, gewöhnlich besser ab als bei Tests, in denen die sprachlichen Fähigkeiten untersucht werden. Einige Personen mit einer ASS haben idiosynkratische Fähigkeiten oder eine „Inselbegabung“, wie die Fähigkeit, komplexe Kopfrechenaufgaben zu lösen, oder eine musikalische Sonderbegabung. Allerdings können solche Personen diese Fähigkeiten oft nicht produktiv oder sozial-interaktiv einsetzen.
Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen
• Untersuchung durch den Arzt
• Berichte von Eltern und anderen Betreuungspersonen
• Standardisierte Autismus-spezifische Screening-Tests
Der Arzt stellt die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung, indem er das Spielverhalten des Kindes beobachtet und die Eltern und Lehrer des Kindes befragt. Standardisierte autismusspezifische Screening-Tests, wie der Fragebogen zur sozialen Kommunikation für ältere Kinder und die modifizierte Checkliste für Autismus-Spektrum-Störungen bei Kleinkindern (Modified Checklist for Autism in Toddlers, Revised, with Follow-Up; kurz M-CHAT-R/F), können bei der Identifikation von Kindern helfen, die genauer untersucht werden müssen. Psychologen und andere Fachkräfte können die komplexere Beobachtungsskala für autistische Störungen und andere Werkzeuge nutzen.
Zudem führen Ärzte bestimmte Blut- oder Gentests durch, um behandelbare Grunderkrankungen oder Erbkrankheiten wie erbliche Stoffwechselstörungen und Fragiles-X-Syndrom ausschließen zu können.
Quelle:
Für Sie zusammengestellt von Merck & Co, Inc., Rahway, NJ, USA (außerhalb der USA und Kanadas als MSD bekannt) —einem Unternehmen, das auf führende Wissenschaft zurückgreift, um Leben weltweit zu retten und besser zu machen. Erfahren Sie mehr über die MSD MANUALS und unser Bekenntnis zu weltweitem medizinischem Wissen