Sendung vom: Samstag, 17. Dezember 2022, 8:30 Uhr
Redaktion: Vera Kern
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2022

Ab dem Schuljahr 2026/27 gilt der Rechtsanspruch für eine Ganztagesbetreuung in der Schule. Zunächst nur für Erstklässler. Jetzt schon fehlt dafür aber qualifiziertes Personal.

Den Audio-Beitrag gibt es hier.

MANUSKRIPT

O-Ton 01 Gina:
Erstmal gibt es die Schule zum Lernen. Und danach gibt es noch Mittagessen und dann gehen wir raus und können ein bisschen spielen. Dann gibt es die Lernzeit, wir gehen nach oben und machen die Hausaufgaben, wenn wir fertig sind, können wir spielen.

O-Ton 02 Benjamin:
Und da drüben ist der neue Bau. Der mit diesen schwarzen Brettern, das ist alles schon neu. (…) Also sie wird eine Ganztagsschule werden. Und sie wird auch größer.

Sprecher:
So wie diesen Kindern soll es bald allen Grundschülern in Deutschland gehen. Ab dem Schuljahr 2026/27 haben Erstklässler einen Rechtsanspruch darauf, bis zum Nachmittag in der Schule betreut zu werden. Das soll die Eltern entlasten, aber auch die Kinder sollen so eine optimale Förderung bekommen. Allerdings fehlen Erzieherinnen und Lehrkräfte, viele Schulen sind zu klein. Und es ist unklar, ob das Geld ausreicht, um den Ganztag für alle umzusetzen.

Sprecher:
„Das Recht auf Ganztagsbetreuung – Wie sich Grundschulen vorbereiten“ von Britta Mersch.
Atmo 01: Hausaufgabenbetreuung:
Kind 1: Das hier, das hier müssen wir machen. Kind

2: Das ist Mathe. (Atmo stehenlassen)

Sprecher:
Es ist halb drei am Nachmittag an der Anne-Frank-Grundschule in Freiburg. Kinder der Klasse 1a sitzen an ihren Tischen und arbeiten an ihren Hausaufgaben.

O-Ton 03 Frederik:
Ich muss Achten schreiben und zählen, wie viele Dinge auf dem Bild abgebildet sind und sie dann in Strichen in die Kästchen schreiben und dann mit einem Strich die Kästchen zu der passenden Zahl verbinden und unter der Zahl dann noch auf zwei Fünferwürfeln dann noch die passende Angabe bei den Würfeln schreiben.
Sprecher:
Der siebenjährige Frederik ist froh, dass er die Hausaufgaben in der Schule erledigen kann.
O-Ton 04 Frederik:
Weil hier einfach mehr sind, hier kann ich zuhören, wie die anderen das machen. Dann kriege ich das besser hin. Zu Hause geht das nicht.

Sprecher:
Sein Zwillingsbruder Moritz besucht die Parallelklasse. Beide bleiben gerne bis zum Nachmittag in der Schule:

O-Ton 05 Moritz:
Meine Klasse ist die 1b, die ganz am Anfang, da wo man reingeht, wenn man kommt, die erste Klasse. Und Hausaufgaben kriege ich auch gut hin.

Sprecher:
Drei Mitarbeiter der sogenannten „außerunterrichtlichen Betreuung“ kümmern sich an diesem Nachmittag um die Kinder. Das Angebot richtet sich an alle, die nach dem Unterricht in der Schule bleiben. Philip Kleser ist ausgebildeter Jugend- und Heimerzieher. Er hat sein Anerkennungsjahr an der Anne-Frank-Grundschule gemacht und ist danach an der Schule geblieben. Sein Arbeitstag startet, wenn der Unterricht der Kinder endet:

O-Ton 06 Philip Kleser:
Wir kommen normalerweise immer nach dem Stundenplan von den Kindern und holen die Kinder dann, direkt wenn die Schule aus ist, ab. Und dann haben sie bis 13 Uhr erstmal Freispiel. Um 13 Uhr ist dann unser Mittagessen und nach dem Mittagessen ist bis um 14:30 Uhr Freispiel und dann beginnt die Lernzeit, wie jetzt gerade.

Atmo 02: Hausaufgabenbetreuung

Sprecher:
Die Kinder sollen möglichst selbstständig ihre Hausaufgaben bearbeiten:

O-Ton 07 Philip Kleser:
Und dann, wenn Fragen bestehen, stehen wir immer zur Seite und unterstützen natürlich auch, wenn es Probleme gibt.

Sprecher:
Organisiert wird die Nachmittagsbetreuung von einem Verein, den Eltern der Schule vor 16 Jahren gegründet haben. Monika Engelmann ist die pädagogische Leitung und Mitgründerin:

O-Ton 08 Monika Engelmann: Ursprünglich war eigentlich geplant, dass nur eine Betreuung bis 14:00 stattfinden soll. Das wurde dann aber schnell ausgeweitet auf 17:00, weil damals schon Eltern an uns die Anfrage gestellt haben, ob es nicht möglich wäre, eben auch mit Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung eine lange Betreuung hier in der Anne-Frank-Grundschule anzubieten.

Sprecher:
Die pädagogischen Grundpfeiler entwickelt die Schule immer weiter. Seit 2014 arbeitet sie auch nach einem Rahmenplan der Stadt Freiburg:

O-Ton 09 Monika Engelmann:
Mit dem Schulkindbetreuungskonzept haben wir angefangen, eine Klassenbetreuung zu machen. Das heißt, es gibt wie einen Klassenlehrer auch einen Klassenbetreuer oder -betreuerin, die für die Kinder gemeinsam zuständig sind. Das sind also immer Kinder aus einer Klasse und da ist die Nachfrage unterschiedlich groß. Es gibt Betreuungsschlüssel, die auch in der Rahmenkonzeption stehen und an die wir uns auch halten müssen. Und wenn dann einfach der Rahmen dann gesprengt wird, dann kommt es vor, dass Kinder einfach auf der Warteliste stehen für einen Ganztagsplatz. Die Nachfrage ist schon groß.

Sprecher:
An der Anne-Frank-Grundschule in Freiburg können zurzeit bereits rund 200 der 240 Schulkinder an der Ganztagsbetreuung teilnehmen. Etwa 130 Kinder bleiben bis 17 Uhr. Und bald soll es Plätze für alle Kinder geben. Dann erfüllt die Schule einen Auftrag, der ab dem Schuljahr 2026/27 für alle Grundschulen in Deutschland gilt. Ab dann greift der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung, auf den sich Bund und Länder im September 2021 geeinigt und dem kurz darauf zunächst der Bundestag und dann der Bundesrat zugestimmt haben. Die damalige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek zeigte sich nach der Entscheidung des Bundestags erleichtert. So wie hier im Interview mit dem Fernsehsender Phoenix1:

O-Ton 10 Anja Karliczek:
„Der Deutsche Bundestag hat gerade das Ergebnis des Vermittlungsausschusses bestätigt und durchgeleitet. Und so kann der Rechtsanspruch auf Ganztag in der Grundschule jetzt ab 2026 Schritt für Schritt eingeführt werden. Das macht mich persönlich sehr froh, weil ich finde, das ist ein wesentlicher Baustein für Familien in einem Modernisierungsjahrzehnt, in einem Jahrzehnt, in dem sich sehr viel ändert. Und es ist wichtig, dass wir Familien Sicherheit geben.“

Sprecher:
An der Anne-Frank-Grundschule soll sich bald ganz grundlegend etwas ändern, um den Ganztag für alle umzusetzen: Die Schule möchte eine gebundene Ganztagsschule werden. Das heißt: An vier Tagen in der Woche bleiben alle Kinder bis zum Nachmittag. Schulleiterin Karoline Schiafone:

O-Ton 11 Karoline Schiafone: Wir werden das in einer Form ausführen, dass die Kinder von 7:30 bis 15:30 montags bis donnerstags an der Schule sein werden, alle Kinder und freitags bis 12:30. Und im Anschluss daran es auch weiterhin ein bezahltes Betreuungsangebot geben wird.

Sprecher:
Die Schule hat diese Entscheidung getroffen, bevor der Rechtsanspruch für Erstklässler eingeführt wurde. So sollen alle Kinder beim Lernen besser unterstützt werden, erklärt Karoline Schiafone.
1 Phoenix-Interview mit Bundesbildungsministerin a.D. Anja Karliczek: https://www.youtube.com/watch?v=RrdubZ255_U

O-Ton 12 Karoline Schiafone: Dass wir hier im Bezirk, wo es einfach Kinder aus ganz verschiedenen Bildungsschichten und sozialen Hintergründen und auch viele Migrationsfamilien gibt, dass wir gemerkt haben, dass es für viele Kinder einfach von großem Wert ist, wenn sie so einen Nachmittagsplatz haben. Und wir haben gesehen, dass wir das dem Bedarf gar nicht gerecht werden können in den engen Räumlichkeiten. Und daher haben wir uns auf den Weg gemacht und gesagt, wir brauchen eigentlich eine andere Form, wo alle Kinder diese längere Zeit in der Schule haben können, um auch einfach eine größere Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Und das können wir nur, wenn die Räume auch besser ausgestattet werden und wenn wir uns auf den Weg zur gebundenen Ganztagsschule machen.

Atmo 03 Schulgong:

Sprecher:
Der Rechtsanspruch gilt zunächst nur für die Kinder, die im Schuljahr 2026/27 in die erste Klasse kommen. Und er soll etwas umsetzen, für das die Bildungspolitik schon lange kritisiert wird. Denn spätestens seit der ersten Pisa-Studie aus dem Jahr 2001 ist bekannt, dass das deutsche Schulsystem nicht darauf ausgerichtet ist, alle Kinder optimal zu fördern. Oft bestimmt das Elternhaus, wie erfolgreich eine Schulkarriere verläuft. Das soll sich mit dem Ganztag ändern, so die damalige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek.

O-Ton 13 Anja Karliczek:
„Wir gewinnen im Ganztag in der Grundschule natürlich mehr Zeit. Mehr Zeit für die Kinder, um Sprache zu lernen, wo das noch nötig ist, oder eben auch Talente und besondere Leistungsfähigkeiten zu entdecken. Einfach, um die Kinder besser zu fördern. sie da abzuholen, wo sie stehen und ihnen vielleicht auch Angebote machen zu können, die nicht zum normalen Schulalltag gehören. Und da glaube ich, für das Thema Bildungsgerechtigkeit, für Chancengerechtigkeit, können wir an dieser Stelle eine Menge tun.

Sprecher:
Mit 3,5 Milliarden Euro will der Bund den Ganztag fördern. Allerdings gibt es in den Ländern und Kommunen noch eine ganze Reihe von Problemen und offenen Fragen. Viele Bundesländer haben einen großen Nachholbedarf beim Ausbau der Plätze. Während ostdeutsche Bundesländer gut dastehen, da es schon zu Zeiten der DDR eine Ganztagsbetreuung in Horten gab, müssen viele westdeutsche Bundesländer noch deutlich nachsteuern – auch Baden-Württemberg. Im Schuljahr 2021/22 besuchten insgesamt rund 304.000 Schülerinnen und Schüler einen Hort oder ein anderes Betreuungsangebot am Nachmittag, an Grundschulen nur etwa jedes zweite Kind. Und es gibt viele Diskussionen darüber, wie die Ganztagsbetreuung an Schulen gestaltet werden soll – und wer für den Ausbau verantwortlich ist.

Zitator 1a:
Beachten Sie bitte: Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter richtet sich gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe und nicht gegen das Land.“

Sprecher:
Teilt das Kultusministerium in Baden-Württemberg auf die Frage von SWR2 Wissen schriftlich mit, wie bis zum Schuljahr 2026/27 ausreichend Plätze geschaffen werden sollen.

Zitator 1b:
Dem Land ist aber natürlich sehr wichtig, gemeinsam mit unseren kommunalen Partnern bestmögliche Angebote zur ganztägigen Bildung und Betreuung von Grundschulkinder zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf den Weg zu bringen. Wir sehen uns hier auch in der Pflicht. Land und Kommunen stehen dazu sowohl auf der Arbeits- als auch auf der Leitungsebene in regelmäßigem Austausch, damit der Rechtsanspruch ab dem Schuljahr 2026/27 erfüllt werden kann.

Sprecher:
Doch viele Feinheiten sind noch gar nicht geklärt – und das macht Edgar Bohn große Sorgen. Er ist ehemaliger Schulleiter der Anne-Frank-Grundschule in Freiburg. Außerdem ist er bundesweit und für Baden-Württemberg Sprecher des Grundschulverbands.

O-Ton 14 Edgar Bohn:
Im Moment, wenn man an die Ganztagsbetreuung denkt, da wird ja nicht von der Ganztagsschule gesprochen, sondern Anspruch auf ganztägige Betreuung, ist für uns auch unklar, wie denn dann die Standards pädagogische und fachliche Standards aussehen werden. Da wünschen wir uns sehr, dass da eine einheitliche Diskussion stattfindet. Wir müssen hier sehr auf die Qualität achten.

Atmo 04: Kinder

Sprecher:
Edgar Bohn kritisiert, dass die Interessen der Kinder nicht im Vordergrund stehen. Sondern dass vor allem an die Eltern gedacht wird, wenn Ganztagsangebote ausgebaut werden. Und im Moment werde viel improvisiert. Geeignete Räume fehlen. Schulen und Träger des Ganztags wissen nicht, woher sie qualifiziertes Personal nehmen sollen. Denn schon jetzt fehlen im Primarbereich Tausende von Lehrkräften. Ganz zu schweigen von pädagogischen Fachkräften, die die Nachmittagsbetreuung mitgestalten sollen.

O-Ton 15 Edgar Bohn:
Wir brauchen ja für die Ganztagsbetreuung neben den Lehrkräften auch pädagogische Assistenten, sage ich jetzt mal, also Menschen, die pädagogisch vorgebildet sind und in diesen Freiräumen bei Mittagsbetreuung und so was, bei der Hausaufgabenhilfe, also bei dieser Bewältigung von Lernaufgaben unterstützend wirken, da brauchen wir auch ausgebildetes pädagogisches Personal. Wenn wir wissen, dass jetzt im Erzieherbereich sehr, sehr viele Fachkräfte fehlen, steht zu befürchten, dass es möglicherweise auch für den Ganztag in den Schulen der Fall sein wird.

Sprecher:
Doch nicht nur die Rahmenbedingungen sorgen zurzeit für Unsicherheiten. Heftig diskutiert wird auch die Frage, wie die Ganztagsbetreuung an Schulen überhaupt gestaltet werden soll. Denn es gibt ganz unterschiedliche Modelle. Sybille Stöbe-Blossey leitet an der Universität Duisburg-Essen die Forschungsabteilung Bildung, Entwicklung und Soziale Teilhabe.

O-Ton 16 Sybille Stöbe-Blossey: Es gibt einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026, der im Kinder- und Jugendhilfegesetz im SGB 8 verankert ist. Das heißt, dieser Anspruch (…) kann auch über Hort oder eben komplett über die Jugendhilfe realisiert werden.

Sprecher:
Die Betreuung muss also nicht an der Schule stattfinden. Und das habe auch Auswirkungen darauf, wie Schule am Vormittag und Betreuung am Nachmittag ineinandergreifen:

O-Ton 17 Sybille Stöbe-Blossey:
Die traditionelle Struktur im Grundschulbereich war ja eigentlich, dass die Kinder nachmittags in einen Hort gehen, also in eine Kindertageseinrichtung mit gemischten Altersgruppen im Grunde oder auch in einen reinen Hort. Insbesondere in den östlichen Bundesländern ist das auch nach wie vor so (…) dass die eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur an Horten haben. Und da gibt es mehr oder weniger enge Kooperationen zwischen Horten und Grundschulen. Aber das ist eine andere Struktur, die über die Jugendhilfe läuft. Und in westlichen Bundesländern, in einigen Bundesländern, wird der Anspruch auf Nachmittagsbetreuung im Grundschulalter verstärkt über die Schulen geleistet.

Sprecher:
Auch die Form des Ganztags bestimmt, wie gut Schule am Vormittag und Hort am Nachmittag miteinander harmonieren. Neben dem gebundenen Ganztag, an dem alle Kinder einer Schule teilnehmen, gebe es noch zwei weitere Ausrichtungen:

O-Ton 18 Sybille Stöbe-Blossey:
Es gibt den teilgebundenen Ganztag, das sind dann Schulen, die haben sowohl Ganztagsklassen als auch Halbtagsklassen. Und es gibt den offenen Ganztag, da können die Kinder und Familien wählen, ob sie am Ganztagsangebot teilnehmen. Und das ist die Lösung, die man in Nordrhein-Westfalen gewählt hat. Und da muss man sagen, ist Nordrhein-Westfalen auch bundesweit Spitzenreiter von der Grundstruktur her.

Sprecher:
Denn so gut wie alle Schulen in NRW haben inzwischen ein offenes Ganztagsangebot. Trotzdem gibt es auch in diesem Bundesland noch etliche Herausforderungen. Auch hier steht bislang nur für etwa die Hälfte aller Grundschulkinder ein Platz zur Verfügung. Und trotz des politisch gewollten offenen Modells machen sich in NRW-Schulen auf den Weg, den Ganztag zu rhythmisieren. Das bedeutet, Unterrichts-, Lern- und Spielphasen können dann am Vormittag und am Nachmittag stattfinden. Die Ganztagsbetreuung ist nicht mehr freiwillig, sondern für alle Kinder verpflichtend. Sybille Stöbe-Blossey:

O-Ton 19 Sybille Stöbe-Blossey:
Das bedeutet, dass man sich, wenn das Kind in die Schule kommt, entscheiden muss, will man eine solche Klasse oder eine Halbtagsklasse plus Nachmittagsangebot? Und in den rhythmisierten Klassen ist es so, dass eine Lehrkraft und eine Erzieherin mit mehr oder weniger hohem Stellenanteil dieser Klasse zugeordnet ist und die teilweise auch gemeinsam in der Klasse sind und man den Tag ein bisschen gemischter gestaltet. Da kann dann zum Beispiel auch noch mal eine Spielphase am Vormittag drin sein und eine Unterrichtsphase am Nachmittag. Da sind die Kinder also den ganzen Tag praktisch im Klassenverband zusammen und man kann den Unterricht und Entspannungszeiten sag ich mal oder Selbstlernzeiten besser auf den Tag verteilen.

Sprecher:
Damit das gut gelingt, müssen Schulen und Kommunen viel Geld in die Hand nehmen und Durchhaltevermögen mitbringen. Denn es kann bedeuten, dass eine Schule komplett erneuert werden muss, so wie es zurzeit an der Anne-Frank-Grundschule in Freiburg passiert:

Atmo 05: Baulärm

Sprecher:
Überall auf dem Gelände sind zurzeit Bereiche abgesperrt. Bauarbeiter bohren, hämmern oder füllen Bodenbelag auf, der für eine neue Kletterwand gedacht ist.

O-Ton 20 Karoline Schiafone:
Hier sieht man, wie wir es mit vielen Belastungsfaktoren zu tun haben hier auf der Baustelle. Es ist einfach immer wieder Lärm. Die Kinder machen das einfach mit Bravour, dass sie trotzdem konzentriert arbeiten. (…) Da wird die Boulderwand hergestellt, die auch wieder bohren und mit lauten Gerätschaften umgehen, also das ist einfach unser Alltag im Moment.

Sprecher:
Der Viertklässler Benjamin kann sich einen Schulalltag ohne Lärm kaum noch vorstellen:

O-Ton 21 Benjamin:
Halt laut beim Lernen, aber sonst geht es eigentlich.

Sprecher:
Schulleiterin Karoline Schiafone ist sicher, dass sich das Engagement lohnt. Begeistert zeigt sie auf eine Skizze an einer Pinnwand, die darstellt, was an der Schule gerade neu entsteht. Die Klassen bekommen deutlich mehr Platz zum Lernen, auch entsteht ein ganz anderes Raumkonzept:

O-Ton 22 Karoline Schiafone: Es wird eben im Zuge dieses Neubaus eine Kreativwerkstatt geben und einen Werk-Spielplatz und dass Kinder im konkreten Tun, im handelnden Tun ganz viele Fähigkeiten und Kompetenzen erlernen. Und diese Phasen zum Beispiel (…) in der Kreativwerkstatt und in dem Werkspielplatz oder im Kunstraum, die lassen sich natürlich auch an ganz verschiedenen zeitlichen Stellen des Unterrichtstages platzieren.

Atmo 06: Treppen

Sprecher:
Karoline Schiafone zeigt auf neue Lernlandschaften, die im oberen Geschoss der Schule entstehen:

O-Ton 23 Karoline Schiafone: Hier wird es auch verschiedene Lernflure geben für die Kinder mit den Gruppenräumen und den Klassenräumen. Da gibt es auch Differenzierungsräume für speziell inklusiv beschulte Kinder und da wird es noch auf der Seite noch den Musik- und den Tanztheaterraum geben und einen Forscherraum und eine Kreativwerkstatt. Und dann kommt noch der dritte Bauabschnitt, der dann noch beinhaltet die Mensa, die dazugehörige Küche und die ganzen Ganztagsräume

Sprecher:
Der Neu- und Umbau dauert mehrere Jahre. Auch eine Kindertagesstätte ist an der Schule angesiedelt. Karoline Schiafone ist dankbar, dass die Stadt Freiburg ihre Schule unterstützt. Denn:

O-Ton 24 Karoline Schiafone: Ich denke auch, gute Ganztagsbetreuung braucht eben verschiedene Dinge, die braucht das Personal, was Lust hat, die Bildungsideen wirklich über den reinen Unterricht hinaus gemeinsam zu denken und auch immer weiterzuentwickeln. Und es braucht eben diese räumlichen Bedingungen, die überhaupt diese Bildungsideen auch ermöglichen, umzusetzen.

Sprecher: Wichtig sei auch gewesen, die Eltern mitzunehmen. Sie
konnten sich an der Abstimmung über das Konzept beteiligen.

Atmo 07: Schulgong

Sprecher:
Allerdings ist fraglich, ob ein gebundener Ganztag, wie ihn die Anne-Frank-Grundschule in Freiburg plant, überall der richtige Weg ist. Reiner Schladweiler ist stellvertretender Landeselternsprecher in Rheinland-Pfalz und Regionalelternsprecher in Trier. Er findet das Modell grundsätzlich gut, sieht aber in der Umsetzung Probleme – zum Beispiel hätten viele Schulen kaum Möglichkeiten, ihr Gebäude umzubauen:

O-Ton 25 Reiner Schladweiler: Die Räumlichkeiten, dafür ist nicht das Land zuständig, sondern die einzelnen Schulträger. Und davon haben wir viele. Das heißt, jeder legt das anders aus. Und die Schulbaurichtlinie, die ist schon seit vielen, vielen Jahren in der Überarbeitung, aber bis heute noch nicht fertig gestellt und dementsprechend passiert da auch nichts. Im Gegenteil, man baut immer kleinere Räume anstatt größere, flexiblere. Und an Ruheräume, da ist eigentlich gar nicht zu denken, es sei denn, es ist eine Kommune, die wirklich viel Geld hat. Aber davon haben wir nicht viele in Rheinland-Pfalz.

Sprecher:
Und deshalb sei ein gebundener Ganztag nicht für jedes Kind geeignet:

O-Ton 26 Reiner Schladweiler: Weil es gibt Kinder, und diese Zahl nimmt jährlich zu, die sind eigentlich gar nichts für den Ganztag. Das heißt, die sind mit diesen langen Zeiten überfordert. Das heißt, die schlafen mittags ein, die drehen durch, werden laut, fangen zu schreien, wollen sich bewegen und und und. Und das ist in einem Schulsystem sehr, sehr schwierig zu bewältigen.

Sprecher:
Vor allem die Bedürfnisse der Kinder müssten bei der Entwicklung des Ganztags immer mitbedacht werden. Doch sie würden bei der Planung oft vergessen, kritisiert Reiner Schladweiler:

O-Ton 27 Reiner Schladweiler: Es fängt ja schon mal mit dem Mittagessen an. In der Ganztagsschule gehört eigentlich das Mittagessen dazu und es sollte schmecken und gut sein und ausgewogen sein. Und wenn ich so manche Ganztagsschulen besuche und dort esse, dann wundere ich mich nicht, dass sie Kinder es auch nicht mögen. Und ich habe eine große Schule gekannt, das war eine der wenigen Landesschulen, die haben dann auch selbst gekocht und das hat geschmeckt. (…) Das war ausgewogen und gesund und frisch.

Sprecher:
Reiner Schadweiler wünscht sich, dass Unterricht ganz neu gedacht wird. Weg vom Buch, hin zu kreativen Lernformen. Eine Schulstunde könnte dann auch mal draußen stattfinden:

O-Ton 28 Reiner Schladweiler: Wir machen zum Beispiel einen Schulgarten so, der wird von Schülern gepflegt und gehegt. Und in diesem Schulgarten pflanzen dann die Kinder die Schüler was an. (…) Und der Mathelehrer ist dabei. Und er sagt dann (…): Wir haben hier unser Dorf oder unsere Schule. Und ihr müsst für die herausrechnen. Wie viel Essen brauchen wir? Wie viel Saatgut brauchen wir? Und wenn man dann die Pflanzen dann haben, was brauchen die an Wasser? Wie viel Erde brauchen wir? Da kann man die tollsten Matheaufgaben machen und den Kindern das in der Praxis direkt zeigen.

Sprecher:
Von so einem Lernformat könnten alle Fächer profitieren. Doch bislang gibt es nur wenige Schulen, die sich auf diesen Weg machen. Weil in der Bildung zu wenig passiert – und auch zu wenig investiert werde:

O-Ton 29 Reiner Schladweiler: Das ist der springende Punkt. (…) Was ist uns Bildung wert? Was ist Schule wert? Und noch viel wichtiger: Was sind unsere Kinder uns wert? (…) Wir sind ein armes Rohstoffland. Wir haben nämlich keine Rohstoffe außer die Bildung unserer Kinder. Und da versagen wir in den letzten Jahren leider kläglich.

Sprecher:
Rückendeckung bekommt Reiner Schladweiler aus der Schulforschung. Anne Sliwka ist Professorin für Bildungswissenschaften an der Universität Heidelberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Schulentwicklung. Sie sieht sich zum Beispiel an, wie Deutschlands Schulen im internationalen Vergleich dastehen. Und stolpert schon über den Begriff „Ganztagsschule“:

O-Ton 30 Anne Sliwka:
Weil außer Deutschland spricht ja praktisch niemand von Ganztagsschule. Der Begriff existiert überhaupt nicht. Mir ist kein englischsprachiger Begriff bekannt, der irgendwie das Gleiche ausdrücken würde wie Ganztagsschule, weil natürlich die allermeisten Schulen auf der Welt sowieso Ganztagsschulen sind. Also diese Idee, dass Schule irgendwie um 12:30 oder um 13:00 endet, das ist natürlich eine deutsche Idee gewesen.

Sprecher:
Auch der frühe Schulbeginn um acht Uhr morgens sei eine deutsche Besonderheit, beobachtet Anne Sliwka:

O-Ton 31 Anne Sliwka:
Wenn man nach Frankreich schaut oder nach Spanien oder in die Niederlande oder nach Kanada oder nach Neuseeland, dann sind das alles Schulsysteme, da fängt die Schule etwas später an als bei uns. Also nicht um acht oder sogar schon vor acht, sondern meistens um halb neun oder um neun. Der Anfang ist meistens ein offener Anfang, das heißt, es gibt irgendwie eine halbe Stunde oder eine Stunde, in der die Kinder ankommen können, so ähnlich, wie wir das auch von den Kitas kennen. Die allermeisten Kinder kommen erst kurz vor Unterrichtsbeginn an, so dass es gar nicht so ein großes Betreuungsproblem gibt in dieser Stunde, weil am Anfang der Stunde noch wenig Kinder da sind. Dann beginnt der Unterricht also eher später als bei uns. Und die Lehrkräfte, die sind selbstverständlich bis 15:30 oder 16:00 an der Schule.

Sprecher:
Teams aus Lehrkräften und Sozialpädagogen, gemeinsames Lernen auch am Nachmittag – das alles sei in vielen Ländern selbstverständlich. Die deutsche Debatte wirke deshalb auf sie etwas befremdlich. Ein Dorn im Auge sind ihr vor allem die Deputatsstunden. Das sind festgeschriebene Arbeitsstunden, die Lehrkräfte im Unterricht verbringen:

O-Ton 32 Anne Sliwka:
Und in diesem Deputatsstunden berechnet sich auch ihre Arbeitszeit. Das heißt, sie sagen, dass sie außerhalb der Deputatsstunden nicht an der Schule anwesend sein müssen. Wir haben sehr viele Lehrkräfte, die in Teilzeit arbeiten. Die haben dann entsprechend nur die Hälfte der Deputatsstunden oder sogar unterhälftige Teilzeit, also noch weniger Deputatsstunden. Und die kommen genau für diese Stundenanzahl an die Schule. Natürlich gibt es auch schon Schulen, die das überwunden haben und die anders arbeiten, aber an vielen Schulen ist es noch der Fall. Und international haben wir das gar nicht mehr.

Atmo 08: Schulgong

Sprecher:
Was dazu führe, dass alle Lehrkräfte ganz selbstverständlich bis zum Nachmittag in der Schule sind. Ein anderes Zeitmodell mache es möglich.

O-Ton 33 Anne Sliwka:
Da gibt es Wochen-Arbeitszeitmodelle oder Jahres-Arbeitszeitmodelle. Das heißt, die Lehrkräfte werden nicht bezahlt für die reine Unterrichtszeit, sondern für die gesamte Zeit, die sie an der Schule verbringen und die sie dort auch pädagogisch gestalten. Und dann haben sie nicht dieses Additive, weil dann haben sie nicht die Deputatsstunden für den Unterricht plus die zusätzlichen Stunden, die von anderen Kräften abgedeckt werden müssen, sondern das ist alles aus einem Guss.

Sprecher:
Das habe in vielen Ländern auch dazu geführt, dass Klassenarbeiten so gut wie gar nicht mehr geschrieben werden. Stattdessen können Lernstandserhebungen mithilfe von iPads oder Laptops durchgeführt werden. Statt viel Zeit mit Korrekturen zu verbringen, kümmern sich die Lehrkräfte also mehr um die Kinder – und pflegten engere Kontakte zu ihren Kolleginnen und Kollegen, die auch eng mit den Kindern zusammenarbeiten. In Deutschland habe sich das noch nicht durchgesetzt. Denn:

O-Ton 34 Anne Sliwka:
Wir haben Schule immer noch als Einzelkämpferschule organisiert und gedacht und dadurch ist die Belastungssituation für die Lehrkräfte auch so enorm hoch, weil sie alleine mit sehr heterogenen Lerngruppen zurechtkommen müssen und nicht sozusagen auf diese Synergieeffekte bauen können, die dann kommen, wenn Lehrkräfte Schule im Team gestalten.

Atmo 09: Schulhof Anne-Frank-Schule

Sprecher:
Dass es herausfordernd ist, neue Wege zu gehen im Ganztag, merken auch die Verantwortlichen der Anne-Frank-Grundschule in Freiburg. Sie stemmen den Umbau und die pädagogische Neuausrichtung der Schule zusätzlich zum normalen Schulbetrieb – und bräuchten dafür mehr Zeit, sagt Schulleiterin Karoline Schiafone:

O-Ton 35 Karoline Schiafone: Wir wollen ja diese Klassenteams bilden aus Lehrkräften und Betreuungskräften. Da braucht es natürlich auch Ressourcen für die Besprechungszeiten, die einfach regelmäßig stattfinden müssen, damit eine gute Zusammenarbeit möglich ist. Das ist auch noch nicht so ganz klar abgebildet, wie weit das möglich ist. Und wir möchten eben auch bestimmte Zeiten wirklich doppelt besetzen. Sowohl die individuelle Lernzeit, die die Kinder haben sollen, wo sie individuell gefördert werden können und auch Projekte, die wir ja gemeinsam mit den AUB-Betreuungskräften machen wollen. Das muss natürlich sich alles auch in der Ressourcenzuweisung des Landes niederschlagen, dass wir das auch so umsetzen können, wie uns das im Moment pädagogisch vorschwebt.

Sprecher:
Karoline Schiafone macht klar: Es braucht mehr finanzielle Unterstützung, um die Betreuungssituation für die Kinder optimal zu gestalten:

O-Ton 36 Karoline Schiafone: Und da ist, glaube ich, wirklich noch viel dran zu drehen, die Ressourcen vom Land so zur Verfügung zu stellen, dass die guten pädagogischen Ideen, die die Schulen haben, auch wirklich umsetzbar sind. Da braucht es einfach Personal, (…) damit wirklich die Kinder in dem Sinne betreut werden können, dass sie gemeinsam lernen und leben können hier an der Schule und sich weiterentwickeln können und wirklich Resilienz und Selbstwirksamkeit entwickeln können. Und da braucht es einfach Personal dafür.

Sprecher:
Der Ganztag ist wichtig für viele Familien: damit sich Kinder gut entfalten und Eltern Familie und Beruf aufeinander abstimmen können. Doch es muss noch viel investiert werden: Bislang fehlt es vor allem an Geld und pädagogischen Fachkräften. Deshalb kommt es jetzt darauf an, was Schulen, Kommunen und Länder aus der Ganztagsbetreuung machen. Nur dann können wirklich alle Kinder ab dem Schuljahr 2026/27 den ganzen Tag in der Schule bleiben.

Absage SWR2 Wissen über Bett:
Das Recht auf Ganztagsbetreuung – Wie sich Grundschulen vorbereiten – von Britta Mersch.

Sprecher: Udo Rau. Redaktion: Vera Kern. Regie: Günter Maurer.